Grenzgängerproblematik im Spiegel der Tessiner Bevölkerung

Politik

Der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte dominiert die arbeitsmarktpolitische Debatte im Tessin. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts gfs-zürich zeigt die Brisanz des Themas: 61 Prozent der Tessiner Bevölkerung betrachten die hohe Zahl von Grenzgängern als Problem des kantonalen Arbeitsmarkts. Auf den ersten Blick verwundert dies: Mit 3 Prozent lag die Arbeitslosenquote im Tessin 2018 nur 0,4 Prozent über dem Schweizer Durchschnitt. Die Umfrage des gfs-zürich legt offen: 18 Prozent der erwerbstätigen Tessiner befürchten ihre Stelle an einen Zuwanderer zu verlieren. Dieser Wert erscheint zwar gering, bedeutet aber gleichzeitig, dass knapp jeder fünfte Erwerbstätige im Tessin aufgrund der Zuwanderung um seinen Arbeitsplatz fürchtet. Damit dürfte jeder Tessiner mehrere Verwandte und Bekannte haben, die sich unter Druck gesetzt fühlen.

Der Tessiner Politik ist es bislang nicht gelungen, die richtigen Antworten auf die Sorgen der Bevölkerung zu finden. Nur 18 Prozent der befragten Tessiner geben an, die Politik im Kanton setze beim Schutz des Arbeitsmarkts die richtigen Prioritäten. Welche Massnahmen aus Sicht der Umfrageteilnehmer erfolgsversprechend sind, verrät die Umfrage des gfs-zürich: Mit 87 bzw. 86 Prozent spricht sich eine deutliche Mehrheit für eine bessere Betreuung von Arbeitslosen bei der Stellensuche aus sowie eine Ausdehnung der Stellenmeldepflicht. Neben der Einführung von Kontingenten bei der Zuwanderung (75%) sind eine funktionierende Sozialpartnerschaft (59%) sowie die Durchsetzung von Mindestlöhnen und Gesetzen (64%) aus Sicht der Befragten tragende Säulen beim Schutz des Tessiner Arbeitsmarkts. Die auf Gemeindeebene stark vorangetriebene Einschränkung der Temporärarbeit beurteilen nur 28 Prozent der Befragten als zielführend.

Die Ergebnisse zeigen Möglichkeiten auf, wie mit neuen Prioritäten die Kluft zwischen Politik und Bevölkerung geschlossen werden kann. Mit der Stellenmeldepflicht und einer guten Betreuung von Stellensuchenden trägt eine breite Mehrheit die nationalen Massnahmen zum Schutz des Schweizer Arbeitsmarkts. Deren Erfolg oder Misserfolg entscheidet sich auf kantonaler und kommunaler Ebene. Neben den erforderlichen Ressourcen für die RAV und deren gute Vernetzung in die Wirtschaft eröffnen sich gemäss Umfrage neue Perspektiven: Da die Bevölkerung einerseits die gute Betreuung von Stellensuchenden schätzt und andererseits die Einschränkung der Temporärarbeit als nicht zielführend betrachtet, könnte das Tessin dem Beispiel anderer Kantone folgen und das Scharnier zwischen privater und öffentlicher Personaldienstleistung stärken. Auf diese Weise können Vermittlungsressourcen rasch gebündelt werden. Der Schlüssel zum Erfolg: die direkte, persönliche Zusammenarbeit zwischen den Beratern in RAV und Temporärunternehmen. Dies kann nur vor Ort gelingen und erfordert den kontinuierlichen Einsatz beider Seiten. Gleichzeitig kann über den Personalverleih und die dort gelebte Sozialpartnerschaft die Durchsetzung Schweizer Mindestlöhne und Arbeitsgesetze garantiert werden.

Die Sozialpartnerschaft erachten 59% der Tessiner Bevölkerung als Erfolgsmodell zur Regulierung des Arbeitsmarkts. Damit die Sozialpartnerschaft in den Betrieben gelebt werden kann, sollte die Politik Gesamtarbeitsverträgen den Vortritt lassen. Das Tessin nimmt diesbezüglich eine Vorbildfunktion ein. Sozialpartnerschaftlich vereinbarte Mindestlöhne gehen vor und übersteuern die kantonalen Vorgaben – schweizweit leider keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig ist die Sozialpartnerschaft ein starkes Organ, um die vereinbarten Lohn- und Arbeitszeitbestimmungen zu kontrollieren, da die paritätische Kontrolldichte deutlich höher ist als durch kantonale und nationale Ämter.

Die Umfrage des gfs-zürich zeigt: Der Tessiner Politik stehen zahlreiche Werkzeuge zur Verfügung, um die allgemeine Sorge vor der starken Zuwanderung ernst zu nehmen und geeignete Schutzmassnahmen zu ergreifen. Das Band der Massnahmen reicht von einer Stärkung der Sozialpartnerschaft über eine konsequente Umsetzung der Stellenmeldepflicht bis hin zu einer besseren Begleitung von Stellensuchenden. Mit einer guten Kommunikation der ergriffenen Massnahmen beweist die Politik Handlungsfähigkeit und verringert die berechtigten Sorgen der Bevölkerung.

Abbildung 1: Die Arbeitsmarktlage im Tessin aus Sicht der kantonalen Bevölkerung


Anmerkung: Zum Erhalt der Antworten hat das Meinungs- und Sozialforschungsinstitut gfs-zürich 200 Tessiner telefonisch befragt. Die Befragung ist repräsentativ für die Tessiner Bevölkerung. Quelle: gfs-zürich, Juni 2019.

Abbildung 2: Erfolgsversprechende Massnahmen zum Schutz des Tessiner Arbeitsmarkts


Anmerkung: Zum Erhalt der Antworten hat das Meinungs- und Sozialforschungsinstitut gfs-zürich 200 Tessiner telefonisch befragt. Die Befragung ist repräsentativ für die Tessiner Bevölkerung. Die Befragten konnten mit „Ja" / „Nein" oder „weiss nicht" die Frage beantworten, ob die jeweilige Massnahme zum Schutz des Tessiner Arbeitsmarkts geeignet ist oder nicht. Die Prozentzahlen stellen den Anteil der Ja-Antworten dar. Quelle: gfs-zürich, Juni 2019.

-> Zum Bericht in der Zeitschrift Il Caffè (auf italienisch)