Alter und Arbeitsmarkt: Die Schweiz muss sich auf einen Paradigmenwechsel einstellen

Ein Gespräch mit Robin Gordon, CEO Interiman Group. 

Es ist unbestritten, dass es ab 55 Jahren schwieriger ist, eine neue Arbeit zu finden. Wird diese Problematik andauern?

Robin Gordon: Davon gehe ich aus mehreren Gründen nicht aus. Zunächst einmal ändert sich die Altersstruktur in der Schweiz rasch. Die letzten Babyboomer werden etwa 2030 das offizielle Rentenalter erreichen. Gleichzeitig hat die Schweiz eine der tiefsten Geburtenraten der Welt. Das bedeutet, dass die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte in der Schweiz sinkt und sich die Lage am Arbeitsmarkt drastisch anspannt. Diese Entwicklung zeichnet sich bereits jetzt ab. Gemäss jüngstem Beschäftigungsbarometer des BFS für das erste Quartal 2022 überschritt die Zahl der offenen Stellen die 100'000, was einem neuen historischen Rekord entspricht. Die Beschäftigungsmöglichkeiten werden zunehmen – davon können Arbeitnehmende über 50 Jahren profitieren.

Das Wirtschaftswachstum in der Schweiz war immer vom Einsatz ausländischer Arbeitskräfte abhängig. Ist das nicht auch die Lösung, um dem aktuellen Rückgang an verfügbaren Arbeitskräften entgegenzuwirken?

Die Zuwanderung von Arbeitskräften wird in der Tat anhalten, aber auch einigen zusätzlichen Beschränkungen unterliegen. Zum einen, weil unsere historischen Einwanderungsländer zugleich stetig sinkende Geburtenraten und eine Überalterung ihrer Bevölkerung verzeichnen, zum anderen, weil sich die Wirtschaftslage der Auswanderungsländer von Jahr zu Jahr verbessert, wodurch es für ihre Arbeitskräfte weniger Anreize gibt, einen Umzug in die Schweiz in Erwägung zu ziehen.

Gibt es Ihrer Meinung nach alternative Lösungen?

Ja. Die erste Alternative wäre, neue Auswanderungsländer mit einer jungen und gut ausgebildeten Bevölkerung zu berücksichtigen. Ich denke da zum Beispiel an Marokko oder Tunesien. Deutschland finanziert in Tunesien bereits Schulen, die Pflegefachkräfte ausbilden. Sobald die Auszubildenden ihren Abschluss haben, werden sie in Deutschland eingestellt. Natürlich muss dieses Thema auf Bundesebene behandelt werden und ich fürchte, dass die Schweiz auf diesem Gebiet etwas in Verzug ist. Die Öffnung unseres Arbeitsmarkts für neue aussereuropäische Länder ist politisch eine äusserst emotionale Angelegenheit, die viel Zeit in Anspruch nehmen wird.

Die zweite Alternative ist die Berücksichtigung der Senioren. Nehmen Sie beispielsweise Japan. Aktuell sind dort fast 15% aller Erwerbstätigen über 65 Jahre alt, wobei fast die Hälfte der 65- bis 69-Jährigen noch berufstätig ist. Bei den 70- bis 74-Jährigen ist noch ein Drittel berufstätig und bei der Bevölkerung ab 75 Jahren sind es immerhin noch 10%. Dies ist vor allem auf eine sehr niedrige Geburtenrate und eine absichtlich begrenzte Zuwanderung zurückzuführen. Zu den Hauptgründen, warum japanische Senioren ihre Pensionierung aufschieben, gehören ein höheres Einkommen, Beschäftigung, die Aufrechterhaltung von Beziehungen zur Gesellschaft als Ganzes und das Gefühl, nützlich zu sein. Ich bin überzeugt, dass die Schweiz in etwa zehn Jahren vergleichbare Statistiken vorweisen wird.

Glauben Sie wirklich, dass Senioren Lust haben, über das gesetzliche Rentenalter hinaus zu arbeiten?

Momentan haben wir folgendes Modell: 100% arbeiten und dann von heute auf morgen in Pension gehen. Ich glaube, dass sich dieses Modell ändern wird: Es ist zum Beispiel denkbar, den Beschäftigungsgrad ab 60 Jahren schrittweise zu senken, dafür aber nach Erreichung des 65. Lebensjahrs weiterzuarbeiten. Schauen Sie sich um: Viele Rentner sind bei guter Gesundheit, langweilen sich und hätten nichts dagegen, weiterhin etwas zu arbeiten. Wir denken noch nicht an sie, weil die Arbeitgeber momentan noch ohne diese Altersgruppe auskommen. In ein paar Jahren werden die Arbeitnehmenden unabhängig ihres Alters angesichts des zunehmenden Arbeitskräftemangels am längeren Hebel sitzen. Den Arbeitgebern wird nichts anderes übrig bleiben, als sich anzupassen. Um Talente für sich zu gewinnen, werden sie die Forderungen der Arbeitnehmenden hinsichtlich Beschäftigungsgrad und Flexibilität erfüllen müssen. Noch ist dies nicht der Fall, aber der Trend wird sich weiter in diese Richtung entwickeln.

Im Jahr 2020 war laut BFS in der Schweiz bereits mehr als jede sechste Person im Alter zwischen 65 und 74 Jahren nach wie vor erwerbstätig. Ich gehe davon aus, dass 2030 fast die Hälfte der Senioren weiterhin erwerbstätig sein wird, und zwar auf einem selbst gewählten statt auf einem vorgeschriebenen Arbeitspensum.

Die Mehrheit der Senioren wird freiwillig und aus Freude weiterarbeiten. Andere werden jedoch leider keine andere Wahl haben, als weiterhin einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Die Reform der zweiten Säule ist immer noch nicht in Kraft getreten, und vielen Menschen werden die heute in Aussicht gestellten Renten gekürzt werden. Man muss sich nur ansehen, wie rasch die Umwandlungssätze sinken – eine Entwicklung, die auf lange Sicht äusserst besorgniserregend ist.

Doch verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin nicht für eine Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters. Die Lebenserwartung ist zwar gestiegen, mit ihr allerdings auch die Produktivität. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Berufe sehr anstrengend sind. Ich bin für die freiwillige Fortsetzung einer beruflichen Tätigkeit nach dem 65. Lebensjahr. Angesichts der sich verändernden demografischen Trends werden Unternehmen lernen müssen, ein attraktives Arbeitsangebot für Senioren bereitzuhalten, da sie in einigen Jahren auf sie als Arbeitskräfte angewiesen sein werden.

Swiss Life hat im Februar 2021 einen interessanten Bericht zu diesem Thema herausgegeben: «Länger leben, länger arbeiten?». Man erfährt darin unter anderem,

  • dass ein Drittel der Männer und fast ein Viertel der Frauen auch nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters erwerbstätig bleiben, wenn auch zu einem geringeren Beschäftigungsgrad.
  • dass sich die absolute Zahl der Erwerbstätigen, die nach dem 65. Lebensjahr noch arbeiten, zwischen 2005 und 2020 bereits verdoppelt hat und voraussichtlich weiter steigen wird, hauptsächlich aufgrund von Teilzeitarbeit.
  • dass mehr als die Hälfte der über 55-Jährigen bereit wäre, länger zu arbeiten, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden, insbesondere die freie Wahl des Beschäftigungsgrads.

Wie sieht es diesbezüglich bei der Interiman Group aus?

Wir beschäftigen derzeit drei Senioren, die über 65 Jahre alt sind. Die Zusammenarbeit läuft schon einige Jahre sehr erfolgreich. Alle drei haben sich aus freien Stücken dazu entschieden, über das gesetzliche Rentenalter hinaus erwerbstätig zu bleiben. Sie arbeiten jeweils an zwei Vormittagen pro Woche und wir profitieren von ihrer grossen Erfahrung in der Verwaltung und Betreuung von Rechtsstreitigkeiten mit Kunden – einem Bereich, wo eine gewisse Reife sehr geschätzt wird.

Wir werden ausserdem in Kürze ein neues Unternehmen gründen, das sowohl auf Senioren, die weiterhin arbeiten möchten, als auch auf Unternehmen, die ihnen einzelne Aufträge erteilen möchten, ausgerichtet ist.

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